Der Abstinentismus

und seine

Bedeutung für das Individuum und
für die Gesellschaft

Von

Dr. Gustav Kabrhel,
o. ö. Professor der Hygiene,
Vorstand des hygienischen Institutes der böhmischen Universität und der
staatlichen Untersuchungsanstalt für Lebensmittel in Prag

München und Berlin
Druck und Verlag von R. Oldenbourg


Einleitung.

In Kreisen, welche dem Wesen der Alkoholabstinenz fernstehen und die Ursachen, welche diese Strömung hervorgerufen haben, entweder nicht verfolgen wollen oder zu verfolgen vermögen, begegnet man in der Regel der Ansicht, die Abstinenten seien exzentrische Sonderlinge, die; um sich in irgendeiner Hinsicht von den übrigen zu unterscheide, althergebrachte unschuldige Gewohnheiten bekämpfen , wie den Genuß so schwacher alkoholischer Getränke, wie es Bier, Wein, Obstweine usw. sind.
Eine andere, freilich viel weniger verbreitete Ansicht ist die, daß die Abstinenten Menschen von höheren Grundsätzen sind, welche in der Bestrebung, durch eine einfache, besonders dem Genusse nervenerregender Mittel abgeneigte Lebensweise die richtige, vollkommene Betätigung der ihnen van der Natur verliehenen Qualitäten zu erreichen, dem Alkohol entsagen.
In Anbetracht dieser Anschauungen erscheint es zweckmäßig und lehrreich, einige auf die Zahl der Abstinenten in einigen Ländern Europas bezügliche Daten anzuführen. Es sei erwähnt, daß Schweden ca. 300 000, Norwegen 200 000, Dänemark 200 000 Abstinenten zählen.
Könnte man unter dem Eindrucke dieser Zahlen noch der Ansicht sein, daß die erwähnten Länder soviel Toren und wundersame Heilige bewohnen oder dass die Bewohner der mitteleuropäischen Länder im Vergleich zu den Insassen der angeführten Staaten so grosse Unterschiede in bezug auf ethische Eigenschaften aufweisen könnten?
Gewiss kann man bereits auf Grund einer solch entfernten, den Kernpunkt der Frage nicht tangierenden Erwägung mit grosser Wahrscheinlichkeit zu dem Schluss gelangen, dass weder der eine noch der andere Standpunkt, von welchem aus man die Abstinenten zu beurteilen pflegt, richtig sein kann.
Es sei von vornherein hervorgehoben, dass es sich bei dem Entschluss, abstinent zu werden, weder um problematische, Personen gesunder Sinne unzugängliche seelische Vorgänge handelt, noch dass dazu besondere, ungewöhnlich reife Geisteseigenschaften die Bedingung bilden.
Zur logisch psychologischen Charakteristik des Abstinentismus möchte ich, noch bevor ich zur genaueren Analyse desselben übergehe, den nachfolgenden dem Leben entnommenen Vorfall erwähnen:

Ich kannte einen Mann - zur Zeit meiner Gymnasialstudien war er bereits ein Greis, der seit seinem 30. Lebensjahre kein Bier* mehr trank. Ein schlichter Landmann, und doch galt er in seiner Umgebung für einen rechtschaffenen, besonders durch praktischen Sinn und Umsicht hervorragenden Menschen.
Die Umstände und Ursachen, welche ihn veranlasst haben, vom Biertrinken abzusehen, waren die nachfolgenden: Als junger Landwirt pflanzte er, um den Ertrag seines Gutes zu erhöhen, auf einem geeigneten Grundstücke Hopfen, was ihm, seiner Erzählung nach, einen hohen finanziellen Gewinn brachte. Der Hopfenhandel und die Beziehungen zur Bierbrauerei brachten ihn zu der Erkenntnis, dass die Brauer zur Bierfabrikation ausser Malz und Hopfen auch noch andere Stoffe benutzen. Von dem aus Malz und Hopfen gebrauten Biere hegte er bis zu jener Zeit die Meinung, dass es ein gesundes Getränk sei. Von dem Augenblick an jedoch, von welchem seine Überzeugung von der richtigen Bierfabrikation erschüttert wurde, deutete er die schlechten Folgen des Biertrinkens, besonders den Kopfschmerz, als Folgen der Einwirkung von zur Bereitung dieses Getränkes benutzten ungehörigen Stoffen. Weitere Belege für diese Schlussfolgerung sah er auch in dem nachfolgenden Umstande: Als Hopfenpflanzer hatte er, wie er sagte, Gelegenheit, den richtigen bitteren Geschmack der in den Hopfenstauden enthaltenen Stoffe kennen und beurteilen zu lernen. Der bittere Geschmack des Bieres schien ihm oft nach dieser Richtung hin verdächtig.
Indem er nun die Möglichkeit einer schädigenden Wirkung und zugleich die Unmöglichkeit der Gewissheit, nur aus Hopfen und Gerste gebrautes Bier das er für unschädlich hielt zu erhalten, einsah, sagte er sich: "Wozu soll ich mich der Gefahr einer Schädigung aussetzen? Gewiss tue ich besser daran, vom Biertrinken abzusehen." Und er zauderte nicht, diesen Entschluss tatsächlich zu verwirklichen.
* Selbstverständlich auch keinen Schnaps
Für seinen Entschluss, kein Bier mehr zu trinken, war also für diesen schlichten, aber praktischen Mann der Umstand bestimmend, dass er keine Sicherheit besass, im Bier ein zweifellos unschädliches Getränk zu erhalten.

Die logische Verbindung der Prämissen und der auf denselben aufgebauten Schlussfolgerung war in dem von mir getreu berichteten Falle ganz schlicht und einfach.
Als charakteristisch erscheint dabei nur das einzige, dass dieser Mann, nachdem er sich einmal zu einer bestimmten Schlussfolgerung durchgerungen hat, auch die Kraft besass, ohne Rücksicht auf die herrschenden Ansichten und Sitten die Konsequenzen derselben durchzuführen; eine solch selbständige Handlungsweise pflegt bei vielen Menschen gewöhnlich nicht den Beifall zu erlangen. Es gehört nämlich zu den menschlichen Schwächen, dass ein jeder Recht zu behalten wünscht. Je mehr Menschen unter einem Banner versammelt sind, desto grössere Dimensionen nimmt dieser Anspruch an und steigert sich eventuell bis zur vermeintlichen Unfehlbarkeit, welche mit der Intoleranz enge verwandt ist.
Ich möchte nun hervorheben, dass der psychologische und logische Charakter der zur Abstinenz führenden geistigen Arbeit ebenso einfach ist wie der Motivenkomplex, welcher jenen schlichten Mann zu dem Entschlusse geführt hat, dem Biertrinken zu entsagen.
Um diese Behauptung zu begründen, ist es notwendig, vor allem die Beziehungen des Alkohols (Spiritus = Weingeist) als Noxe (schädigende Substanz) zu den Störungen der menschlichen Gesundheit klarzulegen und zu definieren.
Diesbezüglich muss in erster Reihe darauf hingewiesen werden, dass zwischen der Alkoholdosis und der schädlichen Wirkung kein Verhältnis einer einfachen, direkten Proportion besteht, wie man in diesen Fragen etwas abseits stehenden Kreisen gewöhnlich anzunehmen geneigt ist, also kein Verhältnis, das durch die Gleichung y = nx, wobei x die Alkoholdosis, y die schädliche Einwirkung, n eine Konstante bedeutet, ausgedrückt werden könnte.
Nun kommt es vor, dass fast bei jeder Diskussion, betreffend die Alkoholwirkung, regelmässig der Beweis der Unschädlichkeit bestimmter Alkoholmengen im Sinne der oben definierten Beziehung geführt wird.
Man sagt z. B.: "Dieser oder jener gesunde Mann trank von seiner Jugend an bis zu seinem späten Tod so und soviel Alkohol täglich. Ich trinke viel weniger Alkohol, folglich befinde ich mich ausser jeder Gefahr." Eventuell hört man die Schlussfolgerung, dass jener Mann eben deshalb gesund geblieben ist und ein so hohes Alter erreicht hat, weil er jenes bestimmte Quantum Alkohol getrunken hat, und dass es nützlich sein wird, sein Beispiel zu befolgen.
Es ist nun auf den ersten Blick klar, dass die oben zitierten Schlussfolgerungen unzutreffend sind, weil sie auf Grund einer falschen Voraussetzung gebildet wurden; denn die Beziehung eines direkten Verhältnisses, von welcher sie ausgeht, ist eine Annahme, welche mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt.
Die Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Organismus ist keine so einfache Funktion, wie sich die Menschen, welche die oben angeführten oder ähnliche Schlussfolgerungen bilden, vorstellen, und hängt nicht nur von der Dosis sondern auch von anderen Faktoren ab, besonders von der Widerstandsfähigkeit des Menschen resp. von denjenigen Körpereigenschaften des Menschen, welche die letztere bedingen, von der Art der Beschäftigung, von den klimatischen Faktoren usw.
Bei dem Studium der Alkoholfrage resp. des schädlichen Einflusses des Alkohols auf den menschlichen Organismus bin ich zu der nachfolgenden mathematischen Formulierung der erwähnten Beziehung gelangt, wie sie sich mir im Lichte der bisher gesammelten Erfahrungen darstellt.
Bezeichnet man die Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Organismus mit y, so ist

y=f(x,z,t,s,u)
wobei
x = die Menge des Alkohols,
z = die Art, in welcher man den Alkohol geniesst,
t = die Körpereigenschaften,
s = die Lebensverhältnisse des Menschen (besonders das Klima, Beschäftigung usw.),
u = die Form, in welcher der Alkohol genossen wird, bedeuten.
 

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