Die Legende vom Weihnachtskaktus



Dieses Bild zeigt keinen Weihnachtskaktus im botanischen Sinne,
aber in der Welt der Legenden ist jeder Kaktus, der Blumen und Früchte trägt, ein Weihnachtskaktus.

Der Weihnachtskaktus

Als Gott das Universum erschuf, die Sonne, den Mond, die Sterne, die Pflanzen und Tiere, die Männer und Frauen, da erschuf er selbstverständlich auch den Kaktus. Die Sonne, den Mond und die Sterne hing er an den Himmel. Es gefiel ihnen dort; mit ihrem Licht beleuchteten sie die Erde. Mit den Blumen und Bäumen machte Gott Wiesen und Wälder. Die Blumen und Bäume waren begeistert, Wiesen und Wälder sein zu dürfen. Die Fische liess Gott im Wasser schwimmen, die Vögel in der Luft fliegen, die Elefanten und Löwen waren in der Steppe zuhause. Für die Menschen war das Paradies bestimmt und für den Kaktus die Wüste. Die Fische fühlten sich wohl im Wasser, den Vögeln gefiel der Luftraum genau so gut wie den Elefanten und Löwen die Steppe. Einzig die Menschen und die Kaktusse beklagten sich. Den Kaktussen gefiel die Wüste überhaupt nicht. Für die Menschen war das Paradies zu schön. Keine Probleme zu haben, war für sie langweilig.

Doch sprechen wir von den Kaktussen. Die Kaktusse sind starke Pflanzen, dauerhaft, zäh, kämpferisch und verschlagen. Wenn du nicht aufpasst, stechen sie dich. Die Wüste hat sie so geprägt. Weder die Hitze der Sonne noch die Kälte der Nacht, weder Trockenheit noch Überschwemmung, weder der Sand noch der Sturm kann ihnen etwas anhaben.

Oh, beinahe hätte ich es vergessen - damals trugen die Kaktusse weder Blüten noch Früchte. Sie empfanden das als ungerecht und benahmen sich aus diesem Grunde besonders bissig.

Jahrtausende verstrichen. Eines Tages gewahrten die Kaktusse in der Wüste ein Grüpplein von drei Personen: einen Mann, der einen Esel führte, auf dem Esel eine Frau mit einem kleinen Buben. Für die meisten Reisenden endete die Reise beim Kaktusfeld. Selbst wenn die Kaktusse es gewollt hätten, würden sie keinem Reisenden einen Durchgang geöffnet haben. Doch jegliche Retterabsicht war ihnen ohnehin fremd. Die Menschen pflegten vor dem Kaktusfeld vor Hunger und Durst zu sterben. Den Kaktussen war klar, dass auch diese kleine Gruppe, Vater, Mutter und Kind samt Esel, dem Tode geweiht war. Vater, Mutter und Kind waren in grosser Eile aufgebrochen. Sie waren Flüchtlinge. Sie hatten ihre Reise, die Kleidung, die Nahrung und das Wasser, nicht gross vorbereiten können. Das Bisschen Brot und die paar Tropfen Wasser,welche sie hatten ergreifen können, als sie Hals über Kopf in die Wüste hinaus hatten rennen müssen, waren längst aufgebraucht. Die Flüchtlinge verfügten über keinerlei Wüstenerfahrung. Sie hatten keine Ahnung, was in der Wüste essbar war und wie man Wasser finden konnte. Doch selbst wenn sie das alles gewusst hätten, würde es ihnen nichts genützt haben; denn die Verfolger hatten ihre Spur gefunden. Die Soldaten eines grausamen Königs ritten auf schnellen Pferden hinter ihnen her. Sie befanden sich bereits in Sichtweite. Die Kaktusse hörten, wie die Frau weinte: "Warum nur hat Gott uns aus der Hand der blutgierigen Soldaten errettet, als all die unschuldigen Kindlein sterben mussten, wenn wir trotzdem umkommen? Wir werden Ägypten niemals erreichen. Hinter uns sind die Soldaten, vor uns die Kaktusse. Wir wollen uns in Stacheln der Kaktusse werfen. Es ist besser, von den Kaktussen aufgespiesst als von den Soldaten zu Tode gefoltert zu werden."

Als die Kaktusse die Familie anblickten, verspürten sie ein ihnen bislang unbekanntes Gefühl: Mitleid und Liebe. Sie wussten: sie würden alles getan haben, um einen Durchgang für die kleine Familie zu öffnen und sie vor den Soldaten zu verteidigen. Aber Kaktusse sind nun einmal Kaktusse, die sich nicht von der Stelle bewegen können. Sich zu öffnen, war für die Kaktusse unmöglich, und die Soldaten konnten sie nicht von sich aus töten. Diese starben erst, wenn sie den Stacheln zu nahe kamen, doch das galt auch für die kleine Familie. Grosse Safttropfen wurden auf den stachligen Blättern sichtbar, die Kaktusse weinten.

Der kleine Junge löste sich aus den Armen der Mutter und sprang zu Boden. Er griff mitten in die Kaktusse hinein. War das sein Tod? Die Kaktusse weinten noch viel mehr. "Kaktusse, öffnet euch," sprach das Kind mit sanfter Stimme. Die Kaktusse vermochten kaum zu glauben, wie ihnen geschah; sie öffneten sich wie Tore. Mit ihren Stacheln berührten sie zwar die drei Menschen und den Esel, doch nicht um damit zu stechen, sondern zu liebkosen. Hinter der Familie schloss sich das Stachelfeld.

Die Soldaten verstanden die Welt nicht mehr. Vor ihren Augen waren die Opfer, nach denen sie bereits die Hände ausgestreckt hatten, verschwunden. Da sie keine Menschen morden konnten, ergriffen sie eine Wüstenziege, welche sich in den Stacheln verfangen hatte. Sie töteten das Tier und färbten mit dem Blut einen Mantel. "Wir werden dem König beibringen, dass es sich um das Blut dieser drei Menschen handelt," sagten sie. "Kommt, wir kehren um!"

Die Kaktusse hatten eine Lichtung um den Vater, die Mutter, das Kind und den Esel gebildet. Vater und Mutter setzten sich. Die stachligen Stämme dienten ihnen als Kissen. Das Kind kletterte auf einen hohen Kaktus. "Dort reiten die Soldaten davon," jauchzte es. Dann küsste es den Kakktus und sprach: "Danke, lieber Kaktus, dass du mir als Aussichtsturm gedient hast." Die Kaktusse schauten sich gegenseitig an. Wie wunderschön sie auf einmal waren! Jede einzelne Kaktusträne hatte sich in eine Blüte von aussergewöhnlicher Schönheit verwandelt. Tausende von Blüten funkelten wie Edelsteine - rot, golden, blau, violett, orange. Einige waren bereits zu Früchten geworden. Wie herrlich diese Früchte schmeckten! Der Vater, die Mutter, das Kind und der Esel assen nach Herzenslust. Die Kaktusse gaben bereitwillig, was sie besassen und waren glücklich dabei. Ein einziger Kaktus - oder besser gesagt: eine Kaktussin war noch blüten- und früchtelos. Es war der geküsste Kaktus. Ganz versunken in das Liebeserlebnis mit dem Kind stand er da und genoss immer noch den Kuss. Dass er nicht blühte, schien ihm nichts auszumachen. Doch als die Nacht hereinbrach und der Mond mit seinem Silberlicht die Kaktussin berührte, da ereignete sich etwas Wunderschönes. An jener Stelle, wo das Kind den Kaktus geküsst hatte, öffnete sich eine silberne Blume in Form einer Krone. Als die übrigen Kaktusse das sahen, verbeugten sie sich und sprachen ehrfürchtig: "Ein grosser König hat dich geküsst, du bist die Königin der Nacht."

Am nächsten Tage öffneten die Kaktusse den Kreis. Die kleine Familie setzte die Reise nach Ägypten fort.

Seit diesem Ereignis tragen die Kaktusse Blüten und Früchte. Und jedes Jahr in einer Nacht trägt die Königin der Nacht ihre wunderschöne Krone.

Die Weihnachtskonfitüre bereite ich mit Kaktusfrüchten zu. Sie schmeckt ausgezeichnet.

Marcel Dietler

Ins Netz gestellt in Erwartung von Weihnachten 2002


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