Bundesrat Moritz Leuenberger:
Eine Dreifaltigkeit für die Wirtschaft! - Welche?
Rede bei der Eröffnung des 35. ISC-Symposiums unter dem Tagungsthema „Liberty, Trust and Responsability“ in St. Gallen - 19.05.2005

Aller guten Dinge sind drei

Zunächst danke ich Ihnen, dass ich diese Rede nicht auf Englisch halten muss, denn ich gebe zu, ich habe oft Mühe mit dieser Sprache. Wenn zum Beispiel der amerikanische Präsident spricht, verstehe ich ihn einfach nicht auf Anhieb. Anders ist es, wenn er auf Deutsch übersetzt wird: Dann verstehe ich manchmal die Welt nicht mehr.

Auch der englische Titel Ihrer Tagung ist nicht eben leicht: Liberty, Trust, Responsability: Freiheit, Treuhandgesellschaft, Verantwortung. Von Treuhandgesellschaften verstehe ich nicht viel. Und so half mir ein zweiter Blick ins Wörterbuch weiter, und dann bemerkte ich auch den Stabreim in der deutschen Version: Dreimal F: Freiheit, Fertrauen, Ferantwortung. (Die deutsche Sprache beherrsche ich.)

Freiheit, Vertrauen, Verantwortung: Drei verschiedene Begriffe, die als Einheit erscheinen, spielen im menschlichen Denken und Glauben seit Jahrtausenden und in allen Kulturen eine wichtige symbolische Rolle. Wir nennen sie Dreiheit, Dreieinigkeit oder Dreifaltigkeit. Denken wir
• an die drei Nornen der nordischen Mythologie und an die göttliche Triade im Hinduismus;
• an die christliche Dreifaltigkeit: Vater, Sohn und heiliger Geist;
• an den Slogan der Aufklärung - Liberté, Egalité, Fraternité;
• an die Universitas: Tres faciunt collegium (mit sieben ist ein Kollegium schon wesentlich schwieriger zu bilden);
• an die drei Säulen der Nachhaltigkeit: Wirtschafts-, Sozial- und Umweltverträglichkeit;
• oder an die Infrastruktur unserer Informationsgesellschaft, das Internet, auch sie basiert auf einer Dreiheit, dem www.
• Unser Land wurde ja erfolgreich von drei Urkantonen durch drei Eidgenossen gegründet, die je drei Schwurfinger zum Himmel reckten. Davon gab es immer wieder Imitationsversuche, doch sind sie alle gescheitert. Denken wir nur an jenen Eidgenossen, der es in Deutschland mit zwei Schwurfingern versuchte. Das wurde ihm völlig zu Unrecht als Victory-Zeichen fehl interpretiert, dabei versuchte er ja nur eine moderne Variante des Rütlischwures.

Aller guten Dinge sind eben drei.

Ich, du, er/sie/es

Die Dreiheit hat eine tiefenpsychologische Wurzel, die sich in der Sprache zeigt. Als dreimalkluge Junggymnasiasten lernten wir konjugieren: sum, es, est: ich bin, du bist, er/sie/es ist. Die Konjugation birgt das Dreieck der Ethik in sich:
• Es gibt einen ersten Pol, das Ich. Ich handle, ich verändere, ich verwirkliche mich. Am Anfang steht die Freiheit, meine Freiheit, mein Glaube.
• Doch stosse ich mit meiner Freiheit bald einmal an den zweiten Pol, an das Du, an deine Freiheit, deinen Glauben, und ich realisiere: Mache ich dir deine Freiheit streitig, verleugne ich auch die meine. Ich muss, um mich entfalten zu können, mit dir ein Arrangement treffen, damit uns beiden die Freiheit erhalten bleibt. Damit - und das ist eine erste ethische Konsequenz - ist meine Freiheit eingeschränkt und ich akzeptiere das um meiner eigenen Freiheit willen.
• Aber wenn du und ich unsere Freiheiten verwirklichen wollen, realisieren wir: Es gibt ausserhalb unseres Zwiegespräches einen dritten, einen neutralen Pol: Er, Sie oder Es, eine oder mehrere Personen, Dinge, die Umwelt, die Natur, aber auch ideelle Werte, die ich und du gemeinsam entdecken, auf die wir uns einigen und die so zu unserer gemeinsamen Regel werden.

Diese drei Pole bilden das Dreieck jeder ethischen Diskussion. Die Widersprüche innerhalb der Trinität des „Ich“, des „Du“ und „dem Andern“ zu lösen, gehört zu den Aufgaben jeder Gemeinschaft.

Die drei Pole können wir auch zusammen mit Kleinkindern entdecken. Ein Säugling kennt zunächst nur seine eigenen Bedürfnisse, und seine Umgebung akzeptiert das ja zunächst auch gerne zu jeder Tages- und Nachtzeit. Doch bald entdeckt das Baby sein Gegenüber, und deshalb kann es meist als erste Worte die Namen der wichtigsten Familienmitglieder aussprechen: Mama, Papa, Auto. Um sich entwickeln zu können, lernt das Kleinkind, die Perspektive zu wechseln und die Freiheit seiner Nächsten in die eigene einzubeziehen, und so akzeptiert es zusammen mit dem du, den Eltern, eine immer längere Nachtruhe. Es geht seinen ersten Kompromiss ein.

Die nächsten Worte des Kleinkindes sind „das da oder dada“, und damit beginnt die Auseinandersetzung des Dreikäsehochs mit der Umwelt. Entwicklungspsychologen sagen: Die letzte und schwierigste Stufe auf dem Weg zum Erwachsenwerden ist die Anerkennung dieser abstrakten Anderen. Je weiter entfernt sie sind, desto mehr Abstraktionsvermögen verlangt uns das ab.

Es gibt eine Triangulation, welche unser Handeln und Denken prägt. Frau und Mann streben nach dem Kind. Der Mensch in der Natur sucht Gott. Individuum und Gesellschaft suchen Kultur.

Die Menschen bewegen sich zwischen diesen drei Polen und überleben nur, wenn sie sich darauf einstellen. Wir alle sind eingebunden in ein Netz von Andern, vom Nachbarn nebenan bis zur Weltgemeinschaft - eingegrenzt und determiniert von der Umwelt, der Natur, von der Physik.

Die Aufklärung: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Die drei Pole des Ich, Du und des Er/Sie/Es können wir in der Losung der Aufklärung - Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - wieder erkennen. Die Anlehnung an die Dreifaltigkeit ist offensichtlich. Der Slogan der reinen Vernunft wurde umflort mit einem Hauch von Religiosität und verkaufte sich so wohl auch besser. Er geht uns so geläufig von den Lippen, dass er wie ein einziger Wert erscheint, wie das Losungswort dafür, wie die Menschheit gestaltet werden kann.

In Tat und Wahrheit widersprechen sich natürlich die drei Elemente und es ist eine ständige ethische Herausforderung, einen Ausgleich zwischen ihnen zu finden. Zwei Beispiele:
• Freiheit und Gleichheit sind ein Gegensatz. Die Freiheit des einzelnen Menschen steht im Widerspruch zur Gleichheit aller Menschen. Dieser Widerspruch zeigt sich in der Sach- und in der Parteipolitik. Liberale Parteien pochen auf Freiheit, die Sozialdemokraten auf Gleichheit, wobei natürlich beide Parteien je auch die anderen Elemente anerkennen. Sie gewichten sie einfach anders. Ein Kompromiss der realen Politik zwischen Freiheit und Gleichheit ist die Grundversorgung. Je höher das Niveau der Grundversorgung, desto grösser die Gleichheit. Über dem Level der Grundversorgung bleibt die Freiheit. An Ihre Tagung mit dem Zug anzureisen, ist ein Grundrecht (von dem ich Gebrauch machte), die Freiheit anderer, mit dem Privatflugzeug anzufliegen ist jedoch gewahrt.

Weil sich die materiellen Ansprüche an denjenigen orientieren, die sich mit ihrer Freiheit mehr leisten können als die anderen, und weil sich auch die Technologie entwickelt, verändert sich auch die Grundversorgung laufend neu. So wird der Katalog des Existenzminimums im Lauf der Jahre stets erweitert, durchaus zu Recht, denn es geht darum, dass alle gleichermassen am sozialen Leben teilhaben können, unter anderem an der Kommunikation, also auch ein Recht haben, Kino, Theater und Fernsehen zu konsumieren. Deswegen gehört heute im Telekommunikationsbereich ein ISDN-Anschluss zur Grundversorgung.
• Auch die Brüderlichkeit steht in Widerspruch zur Freiheit. Endet sie an der Landesgrenze oder soll sie weltweit gelten? Jedes Kreisemodell, das für die Migrations- oder Asylpolitik entworfen wurde, ist ein Verstoss gegen die Brüderlichkeit. Gilt sie weltweit, haben wir unsere Löhne und unseren Besitzstand mit ärmeren Staaten zu teilen und schränken damit unsere Freiheit ein. Endete sie hingegen an der Landesgrenze, ist die weltweite Brüderlichkeit infrage gestellt.

Die Gewerkschaften waren bei der Parole zur Personenfreizügigkeit zwischen dem Grundsatz der Brüderlichkeit und demjenigen der eigenen Freiheiten hin und her gerissen. Ihre Lösung bestand darin, für ausländische Arbeitnehmer in der Schweiz „branchenübliche“ Arbeitsbedingungen zu verlangen, was denn vom Parlament auch beschlossen wurde. Die Branchenüblichkeit in der Telekommunikation war bei einem Arbeitskonflikt in der Firma Orange aktuell, jetzt beim Streit um den Lohn deutscher Lokomotivführer, und bei jeder neuen Lizenz für ein Postunternehmen wird geprüft, ob die Branchenüblichkeit gewährleistet ist.

Die Nachhaltigkeit: Wirtschafts-, Sozial- und Umweltverträglichkeit

Auch der Begriff der Nachhaltigkeit, wie er 1983 von der UNO-Kommission für Umwelt und Entwicklung unter dem Vorsitz von Gro Harlem Brundtland entwickelt wurde, folgt dem Prinzip einer Ethik der drei Dimensionen. Immer noch wird Nachhaltigkeit einfach als Umweltschutz verstanden, sowohl von Umweltschützern als auch von Wirtschaftsvertretern. Das ist sie nicht, auch sie ist eine Dreiheit und vereinigt in sich drei Ziele: ein wirtschaftliches, ein soziales und ein ökologisches. Auch diese drei Ziele widersprechen sich, zumindest auf den ersten Blick. Müsste nämlich jedes von ihnen zu hundert Prozent erfüllt sein, wäre jegliches Handeln unmöglich. Doch Nachhaltigkeit ist eine Denk- und Diskussionsanleitung, um die drei Ziele unter einen Hut zu bringen. Dabei entdecken wir, dass die drei Ziele sich statt zu widersprechen ergänzen können:
• Investieren wir heute in erneuerbare Energien, mag das als unwirtschaftlicher Aufwand erscheinen und entsprechend wird diese Politik ja auch bekämpft. Sobald diese Technologien aber auf dem Markt sein werden, wird der Aufwand rentabel: Sozial, indem wir die Auslandabhängigkeit vermindern und die Energieversorgung für alle garantieren; wirtschaftlich, indem die steigenden Ölpreise weniger Einfluss auf die Energiekosten haben - und ökologisch, weil endliche Resourcen nicht aufgebraucht werden. Die Ölkonzerne Shell und BP investieren in die Entwicklung erneuerbarer Energien nicht deshalb, weil sie Gutes tun, sondern weil sie ihre wirtschaftliche Zukunft sichern wollen. BP nennt sich in Werbespots heute nicht mehr „British Petroleum“, sondern „Beyond Petroleum“, sie will eine Firma sein, die über jene Zeit hinaus denkt, in der Öl noch vorhanden ist.
• So ist die CO2-Abgabe auch ein Anreiz für die Forschung und die Wirtschaft, in neue Technologien zu investieren, das sind Technologien, die auch exportiert werden können.
• Es gibt einen österreichischen Kurort, der mit dem Slogan wirbt: „Umweltschutz als Eigennutz“. Ein Tourismusgebiet, welches seine Landschaft intakt hält und auf naturnahen Tourismus setzt, bewahrt sich und späteren Generationen eine wirtschaftliche Perspektive. Das will auch die Alpenkonvention, auch sie von économiesuisse angefeindet, und deswegen sind ihre Protokolle immer noch nicht ratifiziert. Mit nachhaltigem Tourismus wahrt sie die wirtschaftlichen Interessen der Menschen in Randregionen (ich), stellt dort auch der kommenden Generation ein Einkommen sicher (du) und sie erhält die Natur (es).

Die Nachhaltigkeit ist eine Anleitung, wie drei Ziele gegeneinander abzuwägen sind. Und sie zeigt, dass hinter den vordergründigen Widersprüchen gegenseitige Bereicherungen - heute nennt man das Synergien - gefunden werden können.

Freiheit, Vertrauen, Verantwortung

Mit dem Titel des diesjährigen Symposiums haben die Organisatoren eine neue Trinität geschaffen und werden deswegen gewiss ebenso in die Weltgeschichte eingehen wie Gro Harlem Brundtland, Kant und Montesqieu. Er empfahl ja, auch den Staat in drei Gewalten aufzuteilen, und so haben wir es in der Schweiz dann auch tatsächlich gemacht - bis auf den heutigen Tag:

Das Parlament redet und beschliesst in absoluter Freiheit. Die Richter und Richterinnen ringen wegen ihren persönlichen Streitereien um das öffentliche Vertrauen. Und der Bundesrat trägt die Verantwortung.

Zu Ihrem Tagungsmotto:

Freiheit

Konsequenterweise wird zuerst die Freiheit genannt. Sie ist das Ich.

Kann es eine absolute Freiheit überhaupt geben oder ist das nicht schon logisch unmöglich, weil sich Freiheit ja immer an ihrer Einschränkung definiert?

Robert Walser gibt im „Jakob von Gunten“ eine Antwort. Zusammen mit seiner Lehrerin verlässt Jakob einen Keller und tritt in die Freiheit:

„Sie berührte die Mauer, und weg war der garstige Keller, und wir befanden uns auf einer glatten, offenen, schlanken Eis- und Glasbahn. Wir schwebten dahin wie auf wunderbaren Schlittschuhen, und zugleich tanzten wir, denn die Bahn hob und senkte sich unter uns wie eine Welle. Das ist die Freiheit“, sagte die Lehrerin, nur Momente lang, nicht länger, hält man sich in den Gegenden der Freiheit auf. Sieh, wie die wundervolle Bahn, auf der wir schweben, langsam sich wieder auflöst. Jetzt kannst Du die Freiheit sterben sehen, wenn Du die Augen aufmachst."

Die Freiheit, Handel oder ein Gewerbe zu betreiben, ist in allen westlichen Verfassungen garantiert. Von wem? Vom Staat. Das ist widersprüchlich! Sie finden das offensichtlich auch, denn Sie wollen mit Ihrem Tagungsmotto „Freiheit, Vertrauen, Verantwortung“ eben gerade erreichen, all die freiheitsbedrohenden staatlichen Einschränkungen und Vorschriften überflüssig zu machen.

Wer teilt sie nicht, die Vision einer selbstverantwortlichen und damit sich selber regulierenden Gesellschaft ohne Vorschriften? Wir stellen uns ein Strassenverkehrsrecht vor, das aus einer einzigen Reglung besteht: Es wird rechts oder links gefahren. Würde das Vertrauensprinzip funktionieren, bräuchte es keine weiteren Regeln. Was im Strassenverkehr von jedermann als Utopie erkannt wird, wird im Wirtschaftsleben dennoch hartnäckig immer wieder gefordert: Ein Staat, der sich überhaupt nicht einmischt. Kaum ein Kandidat, der nicht solches verspräche: „Mehr Freiheit, weniger Staat“, „Mehr Freiheit, weniger Steuern“, „Freie Fahrt für freie Bürger“. Nur eine einzige Aufgabe hat der Staat: Er soll die Freiheit garantieren und sonst gar nichts.

Doch mit der Garantie der Freiheit beginnt ja schon die Spirale der Beschränkungen: Die Abwesenheit staatlicher Vorschriften garantiert dem Individuum keineswegs Freiheit. Deregulierung kann die individuelle Freiheit einengen:

Die Liberalisierung von Post, Telekommunikation und Eisenbahn, also die Gewährung der Freiheit an andere Marktteilnehmer, im bisherigen Monopolbereich mitzuwirken, hat in allen Fällen zu Regulierungen und zu neuen staatlichen Stellen geführt, welche den Markt kontrollieren. Mein Departement ist jedenfalls durch die Liberalisierung grösser geworden. Es gibt eine Postregulationsbehörde, es gibt eine Eisenbahnschiedskommission, es gibt eine Comcom - alles staatliche Einrichtungen, die dann von den Vertretern der Exmonopolisten prompt als neuer „Kommunismus“ gegeisselt werden.

Es geht aber nicht nur um die Wirtschaft. Auch die Mehrheit in einer Demokratie kann eine Minderheit beherrschen, und deswegen garantiert ein liberaler Staat Minderheitenschutz. Der Staat muss zwangsläufig die Freiheit der einen beschränken, um diejenige der anderen zu garantieren. Das bestätigt: Kaum wird die Freiheit reglementiert, ist sie auch schon eingeschränkt.

Vertrauen

Es geht dem freiheitsdurstigen Homo Economicus wie dem kleinen Kind. Er entdeckt sehr bald das Du. Zwischen beiden braucht es Vertrauen.

Stellen wir uns ein Leben vor, das auf Misstrauen gründet. Das gilt im Besonderen für die Wirtschaft. Die Risikobereitschaft – Voraussetzung für jeden wirtschaftlichen Erfolg – würde erlahmen und gleichzeitig müsste ein Grossteil der Energien in die ständige Überprüfung des Geschäftspartners gesteckt werden. Das kostet Zeit und Geld, beides kann in einer Vertrauenskultur in das wirtschaftliche Handeln selber investiert werden. Ohne eine kollektive Kultur des Vertrauens kann sich die Wirtschaft nicht frei entwickeln.

Im Wettbewerb wollen die Menschen gegenüber anderen zwar einen Vorteil erreichen. Dazu wenden sie verschiedene Kunstgriffe und Listen an - und sind dennoch darauf angewiesen, dass alle sich gegenseitig an Regeln halten. Die Worte Tausch und Täuschung sind zwar miteinander verwandt, doch müssen wir sie scharf voneinander unterscheiden. Paul Getty hat einmal gesagt: „Wenn man einem Menschen trauen kann, erübrigt sich ein Vertrag. Wenn man ihm nicht trauen kann, ist ein Vertrag nutzlos.“

Deswegen werden moralische Normen, wie das gegenseitige Vertrauen, die bona fides, Treu und Glauben in der Verfassung, im ZGB und im OR normiert.

Der Staat wirkt auf moralisches Verhalten hin, mit so genannten Aufklärungskampagnen bei der Aidsbekämpfung, damit das Vertrauen zwischen den Partnern nicht tödlich endet, oder beim Aufruf, rücksichtsvoll Auto zu fahren. Durch das Strafrecht will er ein Verhalten der Bürger erwirken, auf das diese dann gegenseitig vertrauen können.

Solche Grundlagen braucht nicht nur die Wirtschaft sondern auch der Staat selber. Auch er würde sonst nicht funktionieren. Er könnte die nötigen Mittel für Polizei und Justiz nicht aufbringen, wenn seine Bürgerinnen und Bürger moralische Grundnormen und die Gesetze nicht grundsätzlich bejahen würden (selbst wenn sie sie nicht immer einhalten). Der Angriff auf eine liberale Gesellschaft besteht darin, das Vertrauen der Menschen untereinander zu zerstören.

Ich weiss nicht, ob Sie sich an die Filme von Fritz Lang erinnern, welche kurz vor der Machtergreifung Hitlers entstanden. Es war die Methode von Dr. Mabuse, das Vertrauen in Institutionen zu erschüttern und im so entstehenden Chaos das Böse aufzubauen zu können. Dieselbe Strategie verfolgt der Terrorismus, der den zivilen Flugverkehr oder die Börsen allein dadurch lahm legt, indem das Vertrauen der Menschen in funktionierende Abläufe zerstört wird.

Der Staat kann jedoch die moralischen Grundvoraussetzungen für ein allgemeines gegenseitiges Vertrauen allein nicht schaffen.

Den Fundus des Vertrauens schafft die Tradition der Erziehung, genährt aus Religion und Kultur. Auch deswegen gewährt der Staat die Religions- und Kulturfreiheit. Er und alle gesellschaftlichen Kräfte, also auch die Wirtschaft, sind auf die Moral angewiesen, Religion und Kultur hingegen darauf, dass sie sich frei entfalten können. Damit die Religionsgemeinschaften, die Kirchen, die Literatur, die Kunst dies jedoch können, muss ihnen Freiheit gewähret werden. Dazu gehört auch eine materielle Unterstützung, wie sie in den verschiedenen Verbindungen zwischen Kirche und Staat oder in der Kulturförderung zum Ausdruck kommt. Das heisst: Weil die Wirtschaft das Vertrauen für das eigene Funktionieren benötigt, muss sie die Unterstützung von Kultur und Religion nicht nur akzeptieren, sondern sie auch fördern, sei dies durch den Staat, sei dies durch eigenes Sponsoring. Eine Haltung wie diejenige von Robert Nef, dem Leiter des liberalen Institutes, wonach es aus liberaler Sicht keine Kulturförderung brauche, ist radikal falsch. Die Kultur ist keine Handelsware, kein Teil der Marktwirtschaft, sondern sie ist die Voraussetzung dafür. Die Baukunst hat die Renaissance vorbereitet, die Literaten, Komponisten und Maler der Aufklärung haben die französische Revolution vorbereitet, also die Beendigung des politischen Absolutismus, und damit die Wirtschaftsfreiheit erst ermöglicht. Auf den kulturellen Grundlagen der Aufklärung beruht unser Denken im Wesentlichen immer noch und es verdient, wieder geschärft zu werden, denn es gibt neue absolutistische Tendenzen in der Politik mit erklärten Hegemonialansprüchen und der Wirtschaft, wo globale Monopole angestrebt werden.

Verantwortung

Als Kind glaubte ich, Verantwortung lasse sich in Kilogrammen wägen. Ein Onkel hat mich nämlich immer auf Bergwanderungen mitgenommen. Ich musste den Rucksack tragen und er trug dafür die Verantwortung. Sie musste also etwa fünf Kilo schwer gewesen sein.

Später glaubte ich, Verantwortung lasse sich in Franken beziffern. Denn es hiess, wer mehr verdiene als andere, trage eben auch mehr Verantwortung. Die drei am 1. Mai meistgenannten Schweizer Manager, fassen wir sie zu einer Dreiheit zusammen und nennen sie kurz Marcel Grübella, tragen demnach die 600-fache Verantwortung einer Krankenpflegerin. Und der Direktor der Post trägt die doppelte Verantwortung wie sein vorgesetzter Bundesrat.

Mit Verantwortung lassen sich diese so genannten „Löhne“ nicht rechtfertigen und – ehrlich gesagt – ich habe bis anhin unter keinem Titel irgendeine plausible Rechtfertigung für sie gefunden, schon gar nicht in den Thesen Rockefellers, ganz im Gegenteil.

Verantwortung ist die Kunst, seinem Gewissen zu folgen und dieses Gewissen als imaginären Sparringpartner für alle Entscheide entsprechend zu schulen und zu schärfen. Spontan nimmt jeder Mensch gerne Verantwortung wahr: Kinder wollen Tiere pflegen. Väter wollen das Baby in den Armen wiegen. Wenn allerdings die Verantwortung unangenehm wird, wird sie auch gerne abgeschoben. Sehr bald müssen die Eltern mit dem vorher herbeigesehnten Hund alleine spazieren und der Vater gibt das Baby gerne wieder zurück, wenn es aus den Windeln zu stinken beginnt.

Ähnliches beobachten wir im wirtschaftlichen und politischen Leben auch.

Verantwortlichkeiten werden der unternehmerischen Verantwortung und Risikobereitschaft zuliebe durch das Gesetz zugeordnet.

Wir versuchten mit der Liberalisierung bei den Bundesbetrieben, unternehmerische Verantwortung durch die Verwaltungsräte und nicht mehr durch parteipolitisch zusammengesetzte Gremien wahrzunehmen. Das ist nicht gelungen. Kaum wird es brenzlig, soll der zuständige Bundesrat den Steuerknüppel in die Hand nehmen. Ich bin immer wieder genötigt, mich in Fragen der Anflugwinkel, der Flottengrösse, der Aktienbezüge des swiss-CEO, über Abläufe in Briefverteilzentren und die Verschiebung von Poststellen aktiv einzumischen und es hilft mir gar nichts, auf die Regelung der Verantwortung des Gesetzgebers zu verweisen.

Ich erinnere mich an die Schimpftiraden der Swissair-Verantwortlichen, sie als Vertreter einer privaten Gesellschaft trügen allein die Verantwortung für „ihre“ Firma. Wer trug die Verantwortung, als die Swissair zusammenbrach?

Der Staat hat sie übernommen. Denn sonst wären Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet gewesen. Vergessen wir nicht: Es ist ein Privileg, welches der Staat erteilt, wenn er das Konstrukt einer AG ermöglicht, wonach der Gewinn mitgenommen werden kann und sich die Gläubiger einzig an das Vermögen der AG halten können und nur bei Rechtsmissbrauch einen Durchgriff haben.

Wer aber nur gerade dieses Privileg in Anspruch nimmt, ohne sich um seine Verantwortung für die gesamtgesellschaftlichen Folgen seines Tuns zu kümmern, handelt nach der Devise „Après moi l’état“. Er ist entwicklungspsychologisch auf der Stufe des Säuglings mit den stinkenden Windeln geblieben. Er handelt nicht im Sinne Ihrer Tagung in den Dimensionen der Dreiheit, sondern in jenen der Dreistheit. Seine Dreiheit heisst: Drei Fäuste für meinen Markt.

Wer die Wirtschaftsfreiheit nachhaltig garantieren will, muss bereit sein, sich im Dreieck von Freiheit, Vertrauen und Verantwortung zu bewegen und nicht nur das eine einzige Element, nämlich seine eigene grenzenlose Freiheit anzustreben. Wer nur sie will, zerstört sie.

Die trinitas trinitatis: Glaube, Hoffnung, Liebe

Das gilt nicht etwa nur für die Wirtschaft, sondern für jedes Zusammenleben der Menschen. Paulus schrieb im Brief an die Korinther: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Am grössten unter ihnen ist aber die Liebe.“ Wieder eine Dreiheit, und zwar eine, welche die weltpolitische Notwendigkeit dreidimensionalen Denkens auf den Punkt bringt.

Der Glaube ist die erste Dimension, die gerade Linie zwischen einem Standpunkt und einem Ziel. Wir können das positiv bewerten: „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Doch wir wissen, dass engstirnige Linientreue, Pharisäertum und Fanatismus in eine Einbahnstrasse führen. Es gibt Leute, die können nicht diskutieren, die haben einen heiligen Scheiterhaufen im Kopf und ihre einzige Dimension ist, an etwas zu glauben - an den Markt, an eine Ideologie, an eine heilige Schrift, an die eigene Auslegung derselben, an einen Gott, so wie sie sich ihn vorstellen, und sie lassen keine andere Interpretationen zu. Dieser eindimensionale, unabdingbare Glaube führt in der Konsequenz zu Krieg und Terror.

Die Hoffnung führt zur zweiten Dimension, die sich öffnet zur Fläche und zwei Meinungen Raum gewährt, grundsätzlich also den Dialog ermöglicht. Doch auch diese zweite Dimension genügt nicht, denn sie kann zum Entweder-Oder führen, zur simplifizierenden Trennung zwischen Gut und Böse, zum Schwarz-Weiss-Western, von dem ja gerade die amerikanische Politik massgeblich beeinflusst ist. „Tertium non datur“, das war - in der Sprache des damaligen Imperiums - der bedingungslose Zwang zur digitalen Entscheidung, entweder „für uns oder gegen uns“ zu sein. Nach diesem zweidimensionalen Muster standen sich Kapitalismus und Sozialismus gegenüber, heute sehen einige die Welt wieder zweigeteilt in Staaten, die das Gute per se verkörpern, und solche, die „Schurkenstaaten“ sind.

Die Liebe eröffnet die dritte Dimension menschlichen Verhaltens. Sie verharrt nicht in These und Antithese, sondern führt zur Synthese.

Das ist anspruchsvoll und schwierig. Doch dies ist die Erkenntnis aus jeder Dreiheit: Es gibt keine einfachen Lösungen für ein und allemal. Je nach Zeit und Ort, je nach Beteiligten gibt es immer wieder verschiedene, nie eindeutig richtige oder falsche Lösungen. Es ist wie bei jeder Dreiecksbeziehung: Es gibt kein einfachen Rezepte. Die Antwort muss jedes Mal, in jedem einzelnen Fall neu erarbeitet werden.

Welche Dreifaltigkeit also für die Wirtschaft?

Im Grunde genommen spielt das gar keine so grosse Rolle. Ob es nun eine religiöse, eine aufklärerische, eine nachhaltige oder eine Losung wie diejenige für Ihre Tagung sei: Wichtig ist die Triangulation als solche, dass wir uns also weder mit einfältiger Eindimensionalität noch mit einem zwieträchtigen Entweder-Oder begnügen. In einem Dilemma können wir die Lösung unter Zuhilfenahme einer dritten Grösse finden. In der professionellen Mediation kann in einer Pattsituation zwischen zwei Alternativen der Rückgriff auf eine dritte Grösse weiterhelfen.

Das GPS kann uns dann am sichersten leiten, wenn es sich auf drei Satelliten ausserhalb der Erde verlassen kann.

Wichtig ist, dass wir uns nicht wie die drei japanischen Affen Augen, Ohren und Mund zuhalten, sondern dass wir uns von drei Dimensionen leiten lassen, von Kopf, Herz und Hand.

* * *

Ich hoffe, Sie können Ihre dreitägige Diskussion über die Trinität „Freiheit, Vertrauen, Verantwortung“ frisch, frank und fröhlich bewältigen und wünsche Ihnen dazu Gesundheit, Geduld und Glück oder auch toi, toi, toi.

Dazu überreiche ich Ihnen ein vierblättriges Kleeblatt.

Denn - wer weiss? - vielleicht gibt es ja eine vierte Dimension.

Bundesrat Moritz Leuenberger

http://www.edimuster.ch/privat/