Eignungstest für den Professor

Neue Heimat Schweiz (VI): Der frühere CVP-Nationalrat Jacques Neyrinck wartete 24 Jahre lang auf den Schweizer Pass
24 Jahre lang wartete Jacques Neyrinck auf den roten Pass. Als er ihn endlich in den Händen hielt, war der Professor aus Belgien in der Schweiz längst ein anerkannter Wissenschaftler und Autor.
DENISE LACHAT PFISTER/ LAUSANNE


Vom Schreibtisch seines Studierzimmers aus blickt Jacques Neyrinck direkt auf die Gebäude der ETH Lausanne hinunter. Dorthin wurde er 1972 als Professor berufen. Gleichzeitig Schweizer Bürger zu werden, schien dem gebürtigen Belgier ein logischer Schritt. Als ETH-Professor war er Bundesbeamter und würde auch an internationalen Kongressen eine Bundeshochschule vertreten.
Dass den Kollegen in Deutschland mit der Ernennung zum Professor auch das Bürgerrecht offeriert wurde, stimmte ihn zuversichtlich. Doch weit gefehlt: Zwölf Jahre würde er sich in der Waadt gedulden müssen bis zum ersten Antrag. Er stellte ihn für sich alleine: Seine Frau, eine Französin, wollte ihre Nationalität nicht aufgeben.
Nicht richtig waadtländisch
Laut Bundesgesetz konnten verheiratete Frauen nur zusammen mit ihrem Mann eingebürgert werden. Über verheiratete Männer aber sagte das Gesetz nichts aus. Doch der Kanton Waadt befand, Ehemänner seien nicht ohne ihre Ehefrauen einzubürgern. Als der Professor wegen tendenziöser und missbräuchlicher Auslegung des Bundesrechts mit dem Gang ans Bundesgericht drohte, stellte sich die zuständige Beamtin quer. Falls er vor Bundesgericht gehe und Recht erhalte, was zu erwarten sei, werde ihn der Kanton definitiv nicht einbürgern. Begründen müsse er den Entscheid schliesslich nicht. Damit sah Neyrinck sein Schicksal auf Jahre hinaus besiegelt: Die Schweizermacherin aus der Waadt würde ihm den Weg zum roten Pass versperren. «Dass Ihre Frau nicht auf die französische Staatsbürgerschaft verzichten will, zeigt, dass Sie nicht integriert sind», wies die Beamtin Neyrincks Antrag trocken zurück. Den Lachanfall ob ihrer weiteren Ausführung unterdrückte der Professor nur mit Mühe. «Une femme vaudoise ne discute jamais les décisions de son mari», hörte er sie sagen, eine Waadtländerin stelle die Entscheidungen ihres Ehemanns nie in Frage. Der Satz hat sich ihm ins Gedächtnis gebrannt. Das war 1986. Bis zum nächsten Versuch vergingen weitere acht Jahre. Das neue Bundesgesetz erlaubte die Doppelbürgerschaft, und so stellte nun auch die Ehefrau einen Antrag. Als das «monströs umfangreiche» Dossier für die Gemeinde endlich zusammengestellt war, traten Neyrincks vor die Einbürgerungskommission von Ecublens bei Lausanne.
«Unglaublich stupid»
Die Erinnerung an die «unglaublich stupiden» Fragen bringt Jacques Neyrinck heute noch in Wallung. «Ich war seit über 20 Jahren Professor an der ETH Lausanne, hatte Tausende von Studenten ausgebildet, war als Autor und als Journalist anerkannt. Und dann fragt man mich, wann der Kanton Waadt gegründet wurde. Das ist Primarschulstoff.» Auf Neyrincks Gattin wartete ein rollenspezifischer Eignungstest: Sie musste das Rezept für das Waadtländer Traditionsgericht «papet vaudois» auswendig hersagen. Von Freunden vorgewarnt, brillierte sie vor der Kommission mit einem Rezept des Starkochs Fredy Girardet. «Papet vaudois» wird bei Neyrincks seither nicht mehr gekocht. Dass Jacques Neyrinck als Radiojournalist und als Mitbegründer des welschen «Kassensturzes» kritische Sendungen machte, sei ihm von der Gemeinde zwar zum Vorwurf gemacht worden, sagt der heute 73-Jährige. Ein Nichtschweizer solle sich gefälligst nicht einmischen, selbst wenn er Recht hat.
Endlich Schweizer
Der Fotograf, der mitgekommen ist, um Neyrinck mit dem Schweizer Pass zu fotografieren, erinnert sich lebhaft an jene Sendungen. «Der Hinweis auf den Ausländer fiel jeweils, wenn den Gesprächspartnern alle Argumente ausgegangen waren.» Trotzdem bewilligte die Gemeinde die Einbürgerung und überwies das Dossier an den Kanton - wo Neyrinck die bereits bekannte Beamtin gegenübersass. Sie hiess ihn nacheinander noch die Heiratsurkunde, die Scheidungsurkunde der ersten Ehe sowie die Heiratsurkunde der ersten Ehe beschaffen. Zähneknirschend reiste Neyrinck nach Belgien, um das dritte Dokument vorschriftsgemäss persönlich abzuholen. Im Frühling 1996, 24 Jahre nach seiner Ankunft in Lausanne, war Jacques Neyrinck endlich Schweizer geworden. Drei Jahre später wurde er für die CVP in den Nationalrat gewählt. Als ältester Abgeordneter eröffnete er die Legislatur in perfekter Ironie mit dem Hinweis, dass der Alterspräsident ein eingewanderter Arbeiter und die Schweiz folglich gar nicht so ausländerfeindlich sei, wie immer behauptet werde. Dann änderte das Reglement. Die folgende Eröffnungsrede hielt der Amtsälteste: Nationalrat Christoph Blocher.

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