STADTENGEL FELIX im Land der Rotohren

Von Jürg Rohrer

Miserabel vorbereitet kommt sich der Stadtengel vor, nichts von dem stimmt, was ihm die vorgesetzten Oberen über Zürich erzählt haben: Erstens stirbt dieses christliche Volk nicht aus, wie im Himmel befürchtet, sondern es vermehrt sich mit Hilfe der Störche wie die Karnikel (TA vom 30. April).
Zweitens ist die einheimische Sprache überhaupt nicht schwer zu verstehen. Im Sprachkurs wurden den angehenden Stadtengeln Wörter wie superb, vorzüglich, trefflich oder anmutig eingebläut auf Erden sagt man einfach geil. Auch Wörter wie verdriesslich oder neurasthenisch sind in Zürich überflüssig. Es heisst Scheisse; oder besser noch: Scheisse Mann! Drittens ist Zürich keine reiche Stadt, wie man auch im Himmel meint. Dem Stadtengel fällt das zuerst bei den jungen Frauen auf: Sie haben nicht einmal Geld für anständige Kleider und müssen in billigen, viel zu kurzen Leibchen und in verwaschenen, viel zu engen Hosen auf die Strasse. Ein Bild des Jammers: überall nackte Bäuche bei jedem Wetter; überall sieht Felix Bauchnäbel im Durchzug. Sie kommen ihm vor wie kleine Münder, die um Hilfe rufen. Doch niemand hört sie. Schlimmer noch: Am selben Ort protzen Männer ungeniert mit Textilüberfluss und tragen Hosen, in denen Platz für zwei wäre und deren Gesässtaschen das Trottoir wischen.
Felix will diese Ungerechtigkeit oben melden. Die sollen mal etwas Samt und Seide schicken, damit die armen Mädchen wenigstens ihre Mitte bedecken können. Sonst droht in Zürich kollektive Blasenentzündung.
Oder zuerst kollektive Ellbogenstarre? Der junge Stadtengel bemerkt nämlich auch, dass alle Leute ständig auf ein kleines Ding einreden, das sie mit angewinkeltem Arm ans Ohr drücken. Spitze Ellbogen und rote Ohren die auffälligsten Merkmale dieses mitteleuropäischen Volkes. Und was reden sie ständig? Der unsichtbare Engel horcht ein paar Dutzend Leuten über die Schulter und kommt auf vier Themen: Treffe in zwei Minuten ein, bin gerade im Tram, stecke gerade im Stau, hätte Lust auf Pizza. Letzteres ist die kulinarische Form des GPS: Gits Pizza, Schatz?
Ob all dem Gerede erkennt der Engel ein weiteres Missverständnis, das im Himmel
herrscht: Es stimmt gar nicht, dass die Menschen für das Wort nicht mehr empfänglich sind. Sie horchen ja in diese Dinger rein, bis ihnen die Ohren glühen. Die Menschen wären sehr wohl offen für die Heilige Botschaft, nur wollen sie sie nicht vom Pfarrer auf der Kanzel hören. Nicht Gesangsbücher müssten also vor dem Gottesdienst verteilt werden, sondern Handys. Die Kirchen wären proppenvoll.
Tages-Anzeiger, 7. Mai 2004