Alles teurer, oder was?

Früher war alles besser. Früher war alles billiger. Sagt jeder. Aber stimmt es auch? Die Wahrheit ist: Nie haben wir so gut und so günstig eingekauft wie heute. Eine Zeitreise ins Jahr 1979 zeigt, warum.
SONNTAGSKLICK 25. APRIL 2004 - VON MARKUS GUHN

Haben Sie auch schon mal vor dem Einkaufsgestell gestanden und sich gefragt: Kostete die Ovomaltine beim letzten Einkauf nicht noch 10 Rappen weniger? Oder sich beim neuen Auto gewundert, warum es teurer als das alte war? In solchen Momenten ist uns klar: Heute ist nicht nur alles schlechter, sondern auch noch teurer.
Ein doppelter Irrtum. Besser waren früher vielleicht die Luft und das Fernsehprogramm. Doch der technische Fortschritt hat fast alle Produkte und Dienstleistungen verbessert. Schauen wir 25 Jahre zurück, ins Jahr 1979: Der VW Golf hatte damals weder ABS oder Airbag noch eine Funkfernbedienung. In Adelboden zogen nur 45 kleine Lifte die Skifahrer ins Berner Oberland hinauf, und die Hoover-Waschmaschine schleuderte in dem Jahr, in dem der Kanton Jura eigenständig wurde. Schlaghosen und Blümchenkleid nur mit 800 Umdrehungen. Öko-Spartaste? Fehlanzeige.

SIE HABEN JA RECHT. Der Golf kostete seinerzeit weniger als die Hälfte, drei Tage Skifahren in Adelboden schlagen heute mit 131 statt 80 Franken zu Buche und eine Hoover Waschmaschine ist auch nicht mehr für 798 Franken zu haben. Mehr Geld für mehr Leistung. das leuchtet uns ein. Alles hat schliesslich seinen Preis. Denkste.
Schauen Sie mal in Ihren Briefkasten. Der quillt fast über von Werbeprospekten. Ihre schlichte Botschaft: «Schnäppchen jetzt zuschlagen So billig wie nie». Unlängst drang der Schlachtruf «Geiz ist geil» aus Deutschland in die Schweiz. Media Markt doppelte nach. «Ruinieren Sie uns!», lautet die bizarre Forderung.

ABER KEINE ANGST, es wird uns nicht gelingen, den Elektromarkt in die Pleite zu kaufen. Denn dass der tragbare 42 cm Farbfernseher, der die neusten Kriegsbilder aus dem Irak zeigt, nur noch halb so viel kostet wie zu jener Zeit, als Saddam Hussein Staatschef wurde, liegt nicht nur an den Discountern, die auf Teile ihrer Marge verzichten und ihr Geld mit höherem Absatz verdienen. Vor allem ist es die fortgeschrittene Automatisierung; welche die Massenfertigung so verbilligt hat, dass Staubsauger, Telespiele und Espressomaschinen heute günstiger im Regal stehen.
1979 drehten wir das kleine Kofferradio auf, wenn der Song «YMCA» von Village People gespielt wurde. 2004 dröhnt «Trouble» von der Rockröhre Pink, die im YMCA Jahr geboren wurde, aus dem Sanyo Ghettoblaster. Der kostet nur noch ein Viertel. kann aber auch noch Pinks ganzes Album auf CD abspielen. Noch tiefer fielen Telefongebühren: Für ein 15minütiges Gespräch mit der Erbtante in den USA verlangte Postminister Willy Ritschard noch 112 Franken. Heute nimmt die Swisscom für den gleichen Schwatz 180 Rappen.
Doch das ist längst nicht alles, was der Vergleich mit 1979 offenbart: Eigentlich müssten wir selbst beim Kauf jener Produkte vor Freude aus dem Häuschen sein, die in Franken teurer wurden. Nur merkt das kaum jemand, weil beim Vergleich gestern/heute die meisten vergessen, dass wir inzwischen mehr als doppelt so viel verdienen. Fand der Durchschnittsschweizer 1979 im Mittel Fr. 13.86 in seiner Lohntüte, sind es heute Fr. 31.25 pro Stunde.

WÜRDEN WIR UNSERE PREISE nicht in Franken, sondern in Arbeitsminuten ausdrücken, die wir benötigen, um etwas zu kaufen, würde das Ergebnis lauten: Fast alles ist billiger als früher, weil wir weniger für die Produkte arbeiten müssen (siehe Seiten 4 und 5). Für das Telefonat mit der Erbtante mussten wir 1979 noch 485 Minuten krampfen. also einen ganzen Tag. Heute haben wir uns das 15 MinutenGespräch in dreieinhalb Minuten verdient.
Sie trauen der Rechnung nicht? Nehmen Sie die Kenwood Küchenmaschine. die derzeit nicht aus Schweizer Schaufenstern wegzudenken ist. Der Versandpionier Jelmoli bot den Küchenhelfer bereits im 79er Prospekt für 428 Franken an. In der Zürcher Bahnhofstrasse steht das aktuelle Modell in Silber für 749 Franken im Geschäft. Doch trotz dieser Preiserhöhung müssen wir heute sieben Stunden weniger dafür arbeiten.

DES RÄTSELS LÖSUNG ist die Teuerung, auch Inflation genannt. Niemand hört gern, wenn sie jährlich ansteigt und wir zum Ausgleich um eine Lohnerhöhung kämpfen müssen. Fakt ist aber, dass der Schweizer Warenkorb in den letzten 25 Jahren nur um 80 Prozent teurer wurde. Verglichen mit dem 125prozentigen Lohnanstieg im selben Zeitraum, können wir uns heute mehr leisten. Wir geben das Geld allerdings nun für anderes aus: für Gesundheit, Kommunikation und Ausgang.
Wirklich teurer geworden ist unter dem Strich kaum etwas. Für Zigaretten, ein Damenfahrrad und das unter Statistikern berühmte karierte Kurzarmhemd müssen wir heute länger arbeiten als vor einem Vierteljahrhundert. Für die Rundfunkgebühren übrigens auch. Als Mutter Teresa den Friedensnobelpreis erhielt, hat uns das Schweizer Fernsehen noch für 202 Arbeitsminuten pro Quartal informiert. Heute müssen wir ein Vierteljahr für diesen Service public 216 Minuten arbeiten.
Sollte Ihnen die Zahlendreherei Kopfschmerzen bereitet haben, empfehlen wir Ihnen Aspirin. Die Pille kostet gestern wie heute genau 36 Arbeitssekunden.

Im Prinzip ist alles billiger geworden, denn Löhne seit 1979 stärker gestiegen als die Inflationsrate. Betrug der Stundenlohn in der Schweiz noch 1979 im Durchschnitt 13.86 Franken, sind es heute im Mittel 31.25 Franken mehr als das Doppelte. Die Teuerung lag in den vergangenen 25 Jahren aber nur bei 80 Prozent. Folge: Der Wohlstand stieg, und mit ihm die Konsumwünsche.

Die Abbildung zeigt den Warenkorb von Herrn und Frau Schweizer 1979 und heute: Neu sind die Bereiche Erziehung und Unterricht sowie Nachrichtenübermittlung (Porti und Telefongebühren). Auffällig ist; dass der Konsumanteil für Lebensmittel und Kleidung sank und dafür mehr in Wohnung, Gesundheit und Körperpflege investiert wird. Auch gehen die Schweizer heute öfter aus: Die Ausgaben in Hotels und Gaststätten haben an Bedeutung gewonnen. Der repräsentative Schweizer Warenkorb wird jährlich vom Bundesamt für Statistik durch eine Befragung von 4000 Haushalten ermittelt.

Art der Haushaltsausgaben Anteil 1979 (%) Anteil 2004 (%)
Sonstige Waren und Dienstleistungen
0,3
1,3
Erziehung und Unterricht
0,6
Beherbergung
2,9
1,1
Alkoholische Getränke und Tabak
2,4
1,8
Körperpflege
2
2,4
Nachrichtenübermittlung
2,6
Hausrat und laufende Haushaltführung
6,1
4,3
Bekleidung und Schuhe
8
4,8
Restaurants und Hotels
5,5
8,9
Freizeit und Kultur
11,7
9,3
Verkehr
15
9,5
Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke
17,1
12
Gesundheitspflege
5
15,8
Wohnen und Energie
23,9
25,6